Ortsgeschichte von Rohr auf den Fildern

1979 aus Unterlagen des Pfarramts zusammengestellt von Dekan i.R. Friedrich Necker (1928 - 2015) und seinen damaligen Mitarbeitern.
Von 1969 bis 1981 war Friedrich Necker Pfarrer in Stuttgart - Rohr. Vielen Dank für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung.
Das Dorf Rohr
Das Dorf Rohr ist alt, zwar ist es jünger als Möhringen und Vaihingen, aber bereits im 8. oder 9. Jahrhundert im Zusammenhang mit einem Wachtturm an der "Römerstrasse" gegründet worden. Dieser Wachtturm wurde " die Burg von Ror in Staig" genannt. Die sogenannte Römerstrasse war ein vorgeschichtlicher Höhenfernweg, der sich oben im Brenntenhau teilte: Ein Weg führte nördlich am Schwarzbach vorbei nach Vaihingen hin in die Nähe der späteren Solitude und mündete dort in die Römerstrasse Pforzheim - Cannstatt, die sogenannte Steinstrasse. Ein anderer Weg führte über die "Rohrer Staig" quer über die Filder zu den Neckarfurten bei Esslingen oder Nürtingen. Wo dieser zweite Weg den sogenannten Glemswald verließ, da wurde, wahrscheinlich auf Befehl eines Schwabenherzogs oder eines Fildergrafen, ein Wachtturm erbaut. Dieser Wachtturm hatte vermutlich einen steinernen Unterbau, ein hölzernes Obergeschoß und eine Umwallung mit einem Palisadenzaun. Die kleine Besatzung des Wachtpostens, bewaffnete Strassenreiter, siedelte sich da an, wo die Steigstrasse den wasser- und wiesenreichen Talgrund erreichte, also zu beiden Seiten des unteren Teiles der Steigstrasse.
Die Siedlung Rohr hat ihren Namen wahrscheinlich vom schilfreichen und sumpfigen Gelände um den Schlattbach, der den kleinen See bildet. Rohr wurde also in frühester Zeit nicht von Bauern begründet, sondern war wohl ein Zweckverband der Strassenpolizei, bei dessen Anlage die Bodenverhältnisse keine grosse Rolle spielten. Später jedoch wurden grössere Teile der heutigen Rohrer Markung mühsam gerodet, um einer wachsenden Bevölkerung Ackerboden zu verschaffen. Aber die Zahl der Bauernhöfe ist gering geblieben. Die meisten Bewohner von Rohr mußten sich im Laufe der Jahrhunderte andere Arbeit suchen, als sie eine Landwirtschaft bot.
Die Ritter von Rohr
Auf dem sogenannten Seebuckel zu Rohr, heute noch deutlich oberhalb des kleinen Sees zu sehen, stand ein steinernes Wohnhaus - eine Burg, in der die Ortsherren, - kommandanten der kleinen Garnison wohnten. Über Jahrhunderte gehörte die Burg den Rittern von Rohr. Diese Ritter stammten aus dem enzgauischen Ort Unterriexingen. Der Rohrer Zweig stand in Diensten der Pfalzgrafen von Tübingen, die damals die Herren auf den Fildern waren.
Die Burgherren hatten das Recht, die Kaufmannszüge zu geleiten und für Ordnung und Sicherheit auf den Reisestrassen zu sorgen. Dieses Recht war ihnen vom jeweiligen Fildergrafen, als einem Vertreter des Königs, übertragen worden. Einige Glieder der Familie, denen Rohr als Lehen vom Grafen übertragen worden war, bekleideten im 13. Jahrhundert das Amt eines Vogtes der Sindelfinger Stiftsgüter in Maichingen.
In den Annalen des Klosters Bebenhausen lesen wir, daß im Jahr 1262 eine Sophia von Rohr und ein Heinrich von Rohr gelebt haben. Das Geschlecht der Ritter oder Edelknechte von Rohr kommt von da an ziemlich häufig in den Kaufbriefen des Klosters und des Pfalzgrafen von Tübingen vor, der ursprünglich den Ort als Eigentum besessen hat.
Ritter Friedrich von Rohr, der um 1260 als Stiftsvogt die Sindelfinger Chorherren hart bedrängt hatte, kam deshalb in den Kirchenbann, Als er starb, wurde ihm das kirchliche Begräbnis verweigert. Um dies zu erwirken, verglich sich sein Sohn Wolpoto 1271 mit dem Stift und leistete Schadensersatz.
Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts scheinen die Herren von Rohr in guten Verhältnissen gelebt zu haben. Von da ab sank aber ihr Stern und sie verarmten. Im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts verkauften sie ihre letzten Güter zu Rohr, dann verliert sich ihr Name. Die Burg von Rohr wurde im Jahr 1553 vom Blitz zerstört.
Die Kirche in Rohr
Es waren den Herren von Rohr, die zugleich Vögte der Sindelfinger Stiftsgüter in Maichingen waren, ein Anliegen, daß die Burgkapelle in Rohr dem heiligen Laurentius geweiht wurde. Das Ansehen dieses Heiligen war besonders gross, seitdem an seinem Namenstag im Jahr 955 die Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn geschlagen worden war. Auch war die Kirche in Maichingen dem heiligen Laurentius geweiht. Als die Herren von Rohr ausserhalb der Burg eine Kapelle stifteten, wurde diese ebenfalls dem heiligen Laurentius geweiht. Die Rohrer Kirche wurde, wie es im Mittelalter üblich war, auf dem Grund und Boden des Stifters erbaut. Die Stifter gaben für den Gotteshaus Bau einen Platz auf der Anhöhe hinter der Burg her.
Das erste Gotteshaus in Rohr besaß wahrscheinlich weder Turm noch Glocken. Vermutlich war auch kein Pfarrer am Ort. Die Kapelle gehörte zur Pfarrei in Möhringen. Aus der Zeit gegen Ende des Mittelalters erfahren wir, daß es in Rohr einen sogenannten Widumhof gab, der dem Sitz und Unterhalt eines Geistlichen diente.
Im Jahre 1295 verkaufte Pfalzgraf Gottfried von Tübingen das Dorf Möhringen mit allen darauf ruhenden Herrschaftsrechten an das Spital der aufstrebenden Reichsstadt Esslingen. Somit hatte das Spital von Esslingen die Oberaufsicht über die Rohrer Kapelle und den dort amtierenden Kaplan. 1365 kaufte Eberhard der Greiner und um 1400 Eberhard der Milde von Württemberg Güter und Rechte in Rohr mit Ausnahme der kirchlichen Rechte.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts erweiterte das Esslinger Spital die Rohrer Kapelle zu einer kleinen Kirche. Vielleicht wurde aber auch das alte Gebäude abgebrochen und ein Neubau erstellt. Dieser Bau bekam einen einfachen Turm aus heimischen Werksteinen. Der steinerne Turm konnte mit einem richtigen Geläute ausgestattet werden. Die beiden Glocken, die bezeugt sind, wurden von dem Esslinger Glockengiesser Pantleon Sidler gegossen. Beide stammen aus dem Jahr 1503. Die grosse Glocke - Evangelistenglocke genannt, ist 91 cm hoch und hat einen unteren Durchmesser von 84 cm. Die Inschrift in gotischen Buchstaben lautet:" In sant lux marx iohanes und in sant matheus er gos mich pantion sidlerzuo esslingen im 1503 iar". Diese Glocke versieht bis zum heutigen Tag auf dem Rohrer Kirchturm ihren Dienst auch wenn ein Sprung ihren Klang beeinträchtigt. In der Zeit des 2. Weltkrieges wurde diese Glocke abgenommen und sollte mit vielen anderen Glocken eingeschmolzen und zu Kriegsmaterial verarbeitet werden. Wie durch ein Wunder ist sie diesem Schicksal entgangen. Mit grosser Freude konnte die Gemeinde in der Adventszeit 1947 die ehrwürdige Evangelistenglocke auf ihren Kirchturm zurückholen.
Die jahrhundertelange kirchliche Verbindung der Gemeinde Rohr mit Möhringen brach im Jahre 1531 plötzlich ab. Damals wurde die Reichsstadt Esslingen samt ihren Dörfern reformiert. Die noch katholische Regierung in Stuttgart ordnete hierauf an, dass Rohr aus dem Kirchenverband Möhringen gelöst und von einem Priester aus Böblingen versorgt werde. Das blieb so bis zur Rückkehr Herzog Ulrichs in sein Land anno 1534, der die Reformation Württembergs betrieb und damit die Rohrer wieder mit ihrer alten Möhringer Pfarrei zusammenführte.
Das Recht Pfarrer zu ernennen, das Eigentum am sogenannten Widumhof und Anteile am grossen und kleinen Kirchenzehnten zu Rohr, gehörten aber immernoch der Reichsstadt Esslingen. Dem machte ein Vertrag von Herzog Christof vom 15.2.1557 ein Ende. Nach diesem Vertrag erwarb Württemberg vom Esslinger Spital die genannten Rechte an Rohr. Damit war der Weg frei für eine neue kirchliche Organisation der Gemeinden um das obere Reichenbachtal. Die Vorbereitungen hierzu dauerten allerdings noch mehrere Jahre. Erst 1563 ordnete der Herzog die Errichtung einer evangelischen Kirchengemeinde in Musberg an. Derneuen Pfarrei gehörten ausser Musberg, das den räumlichen Mittelpunkt bildete, auch die Orte Leinfelden, Oberaichen, Unteraichen und Rohr an. Der erste Pfarrer war Magister Christof Raph.
Die Gemeinde Rohr
Die Bürger der Gemeinde Rohr waren arm. Das Ackerland reichte nicht, aus alle zu ernähren und so wandten sich viele anderen Erwerbszweigen zu. Bekannt geworden sind die Rohrer Hafner und Maurer, die Sandfuhrleute und die Weber von Rohr. Doch auch einige Bauern bemühten sich, neue Erwerbsquellen zu erschliessen. So entstanden an den Hängen wertvolle Obsthalden. Zur Erntezeit zogen dennoch zahlreiche Burschen und Mädchen in bäuerliche Dienste ins Unterland hinunter.
Im Taufbuch von 1559 bis 1586 lesen wir von rund 30 Familiennamen. Nachfahren der Familien Betz, Ebner, Elsässer und Stoll leben teilweise noch heute in Rohr.
Das Dorf Rohr wurde wegen der besonders gestalteten Anlage - zwei getrennte, aber durch eine schmale Häuserzeile lose verknüpfte Gebäudegruppen - von Herzog Karl Eugen, der von Hohenheim aus oft und gern mit seiner Franzel Rohr besuchte, als "des Herrgotts Zwerchsack" bezeichnet.
Rohr hatte im 15. Jahrhundert nur wenige Einwohner. Anno 1477 zählte man 22 Männer und Knechte, 1840 zählte die Gemeinde 516 und um 1900 bereits 886 Einwohner. Die Bevölkerung wuchs stetig - bei der Eingemeindung nach Vaihingen 1936 waren es rund 2000.
Ein bedeutender Markstein in der Geschichte von Rohr bedeutete die Eröffnung der Gäubahn im Herbt 1879. Diese Verkehrverbindung von Stuttgart nach Böblingen gab nicht nur vielen Rohrer Bürgern die Möglichkeit auswärts ihren Broterwerb zu finden, sondern auch viele in Stuttgart Beschäftigte konnten sich jetzt in Rohr niederlassen, da die Hauptstadt leicht zu erreichen war. Rohrs gute Luft, die Waldnähe und die prächtige Fernsicht von der Rohrer Höhe aus waren ebenso ein Anreiz zum Hausbau in Rohr wie die damals noch wohlfeilen Bauplätze.
Im Jahr 1928 bekam Rohr eine Strassenbahnverbindung mit Stuttgart. Dadurch wurde die Gemeinde in noch stärkerem Maße Wohngegend für Stuttgart und auch Ausgangspunkt eines umfassenden Ausflugverkehrs in die herrlichen Wälder des Schönbuchs und des Glemswaldes.
Die rasch ansteigende Seelenzahl der Gemeinde hatte längst den Plan reifen lassen, die alte und wiederholt (1588, 1740 und 1814) ganz oder teilweise instand gesetzte Dorfkirche umzubauen. Das Gebäude war baufällig geworden und Abhilfe tat not. 1914 brach der 1.Weltkrieg aus. Er forderte den Verzicht auf den Kirchenbau, der daher erst 1926 gewagt werden konnte. Die Grundmauern und auch der Turm des alten Kirchleins wurden teilweise belassen, aber es war doch etwas Neues das unter der Federführung von Professor Elsässer in Stuttgart entstand.
Mit der schönen Metalltafel am Turm hat es folgende Bewandtnis. Im Jahr 1594 war zu Stuttgart die Pest ausgebrochen, sodass viele Bürger der Hauptstadt mit ihren Familien aufs Land und in die umliegenden Städte flüchteten. Der Kaufmann Martin Sandberger aus Stuttgart starb während seines Rohrer Aufenthalts, wahrschein aber nicht an der Pest, denn von einer Verschleppung dieser Seuche aus Stuttgart heraus ist uns nichts bekannt. Seine Familie liess ihm nun am Kirchturm (ob dies der ursprüngliche Platz war ist nicht bekannt) eine Gedenktafel mit folgendem Text anbringen: "Anno 1594 an St.Martins Tag in Sterbenszeiten starb zu Rohr der ehrenhaft und fürnehm Martin Sandberger, Bürger und Handelsmann zu Stuttgart, seines Alters in 49 Jahren. Dem Gott gnädig sei." Das Bild über der Inschrift stellt die Familie des Verstorbenen, unter dem Kreuz knieend, dar. Die Stadt auf dem Berge im Hintergrund ist wohl das himmlische Jerusalem. Links des Kreuzes ist das Wappen der Sandberger, rechts davon das seiner Ehefrau Barbara geb. Röthing.
Das Kriegerdenkmal, das sich früher im Hof der Kirche befunden hat, steht jetzt auf dem Rohrer Friedhof in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte für die Gefallenen beider Weltkriege. Dieses Denkmal ist ein Werk des Stuttgarter Bildhauers Jung - es stellt die um ihre gefallenen Söhne trauernde Gemeinde dar. Im Krieg 1870/71 sind zwei von sieben Rohrer Kriegsteilnehmern vor Paris gefallen. Der 1.Weltkrieg 1914 - 1918 forderte aus Rohr 57 Tote und der 2.Weltkrieg gar 96 Gefallene. Zu diesen Opfern kommt noch eine ganze Anzahl Vermißter.
Fortsetzung folgt !